Psychologische Aspekte im Spiel

Psychologische Aspekte im Spiel

von Marcel-André Casasola Merkle (V 2007)

Die Entwicklung eines Spiels ist wie die Reise durch ein unbekanntes Labyrinth.
An jeder Weggabelung stellt sich erneut die Frage, welchen Pfad man einschlagen muss, um dem gewünschten Ziel einen Schritt näher zu kommen. Wenn man als Spieleautor die Kunst der Spieleentwicklung
autodidaktisch erwirbt, heißt das zunächst, nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum vorzugehen. Bestimmte Wege erweisen sich dabei wieder und wieder als vielversprechend, und um Zeit zu sparen, nutzt man im Laufe der Jahre mehr und mehr diesen Erfahrungsschatz. Man entwickelt ein Bauchgefühl und verlässt sich auf Faustregeln, die die Entscheidungen leichter machen.

Wenn man jedoch beginnt, diesen Regeln blindlings zu gehorchen, fallen subtilere Aspekte des Spieledesigns schnell unter den Tisch. Gerade wenn es um auf den ersten Blick äquivalente Varianten geht, einen Mechanismen umzusetzen, greifen „objektive“ Qualitätskriterien gerne zu kurz. Besserer Spielfluss, geringerer Verwaltungsaufwand und Materialeinsparungen mögen wichtig sein, wenn es um die Entscheidung zwischen Spielgeld, Punktekarten, Kramerleiste und Aufschreiben geht. Doch ist das auch eine Wahl zwischen vier äußerst unterschiedlichen emotionalen Spielkonzepten.

In einem lesenswerten Editorial1 hat Bruno Faidutti eines dieser Phänomene exemplarisch beleuchtet. In diesem Text soll die Thematik vertieft und auf weitere Aspekte eingegangen werden.

Der richtige Zeitpunkt

Wenn man von Schnelligkeits- und Echtzeitkomponenten absieht, sind Spiele offenbar in ihrem Ablauf von der Zeit unabhängig. Die einzelnen Spielaktionen sind zwar eindeutig chronologisch geordnet, die Dauer eines Schrittes wird jedoch nicht vom Autor vorgegeben. Doch obwohl die nackten Mechanismen uns nichts über die verstrichene Zeit verraten, spielt sie eine enorme Rolle für das Spielerlebnis. Spätestens, wenn bei einem lockeren Familienspiel Grübler am Tisch sitzen, wird man sich dieser Tatsache bewusst.

Als Spieleautor kann man aus diesem Grund nur indirekt Einfluss auf das Zeiterleben nehmen, etwa über die Gestaltung des Materials oder über „Metaregeln“, die die Art und Weise festlegen, wie bestimmte Mechanismen umgesetzt werden sollen. Eine Anweisung wie „Alle Spieler rechnen gleichzeitig ihre Punkte zusammen“ hat keinen Einfluss auf den Spielmechanismus, wohl aber auf Aufmerksamkeit, Dramaturgie und Stimmung am Spieltisch. Der Zeitpunkt nämlich, zu dem Spieler Informationen erhalten, bestimmt die emotionale Wahrnehmung des Spielablaufs.

Als Beispiel soll hier Carcassonne dienen. Die Zugabfolge eines Spielers
besteht aus folgender Reihe:
a) Plättchen ziehen
b) Plättchen legen
c) eventuell Figur einsetzen
a) Plättchen ziehen
b) Plättchen legen
c) etc…

Laut Spielregel wird diese Abfolge zwischen den Punkten c) und a) durch die Züge der Mitspieler unterbrochen. Es wäre jedoch auch denkbar, den Zug zwischen den Aktionen a) und b) zu trennen. Wenn der Spieler statt zu Beginn am Ende seines Zuges ein Plättchen zieht (und die Informationen darauf für sich behält) ändert sich am Spielmechanismus selbst nichts.
Der Spieler hat lediglich mehr Zeit, um zu überlegen, wo er das Plättchen in seinem folgenden Zug einsetzen möchte.

Diese scheinbar harmlose Detailveränderung wirkt sich jedoch auf psychologischer Ebene massiv aus. Betrachten wir die beiden unterschiedlichen Fälle.

I. Das Plättchen für den nächsten Zug wird am Ende des Zuges gezogen

Zunächst fallen zwei Vorteile dieser Regelung auf, die den Spielfluss verbessern.
Mit dem Nachziehen ist der Zug des Spielers für alle Spieler sichtbar beendet. Nachfragen wie „Wolltest du noch eine Figur einsetzen?“ entfallen. Außerdem hat der Spieler eine ganze Spielrunde Zeit vorauszuplanen, da er mehr Informationen über die Spielmöglichkeiten in seinem nächsten Zug besitzt.

Wenn sich die Spielsituation auf dem Tisch zwischen den Zügen jedoch stark verändert, schwindet der Vorteil des Wissensvorsprungs und nur die negativen Aspekte bleiben: der Spieler nimmt weniger am Spielgeschehen teil, da er sich bereits auf seinen nächsten Spielzug konzentriert und muss sich im schlimmsten Fall darüber ärgern, dass seine Pläne bereits zunichte gemacht werden, während er noch gar nicht eingreifen kann. Dabei werden enttäuschte Erwartungen als schlimmer empfunden, als das Ziehen eines Plättchens, das von vornherein nicht gut passt.

Doch je nach Tarierung kann auch das Probleme bereiten. Überwiegt die Möglichkeit, unbrauchbare Plättchen zu ziehen, so verlängern sich die Frusterlebnisse im Spiel. Der Spieler hat eine ganze Spielrunde Zeit, sein Pech zu bedauern. Der nächste Zug ist bereits verloren und es stellt sich ein Gefühl ein, als müsse er eine komplette Runde aussetzen. Bei außergewöhnlich guten Plättchen verlängert sich allerdings auch die Vorfreude und die Spannung steigt, da der gewinnbringende nächste Zug durch die Mitspieler noch in Gefahr gebracht werden kann.

II. Das Plättchen wird am Anfang des Zuges gezogen

Hier kann der Spieler bis zum letzten Augenblick auf das Plättchen hoffen, das auf ideale Weise seine Ziele unterstützt. Die fehlende Information entlastet ihn während der Spielrunde und gibt ihm gleichzeitig mehr Zeit, sowohl in Gedanken seine Träume auszuschmücken als auch das Spiel der Mitspieler und ihr Schicksal beim Ziehen zu verfolgen. Die Spannung verdichtet sich auf den eigenen Zug und es tritt ein Überraschungseffekt ein, wenn der Spieler schließlich sein Plättchen aufdeckt. Hat er dabei Pech, wirkt sich das nur auf die kurze Zeitspanne des Zugs aus und nicht gleich
auf eine ganze Spielrunde.

Wenn keine Grübler am Tisch sitzen, führt das Nachziehen am Anfang so zu einem lockereren Spielgefühl, da der Spieler hin und wieder auch spontan und impulsiv entscheiden muss.

Welche Variante ist nun die bessere? Dies lässt sich nun eben nicht mit einer Faustregel entscheiden, sondern es gilt, die einzelnen Aspekte abzuwägen.
Wer ist mein Publikum? Suche ich eher strategische Tiefe oder leichtere Unterhaltung?
Was geschieht zwischen den Zügen auf dem Brett?
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, ungünstige Plättchen zu wählen? Wie lange dauert ein durchschnittlicher Zug?
Der Verlag hat in diesem Beispiel alles richtig gemacht. Zum Charakter von Carcassonne als Spiel für die breite Masse passt die gewählte Regel II augenscheinlich besser.

Informationsvorsprung und Übersichtlichkeit

Über das Material vermittelt jedes Spiel den Spielern Informationen über den aktuellen Spielstand und ihre Handlungsmöglichkeiten. Da sich jedoch keine Computer an den Spieltisch setzen, entscheidet auch hier die Darreichungsform darüber, wie Informationen von den Spielern wahrgenommen und verarbeitet werden.
Anhand der Art und Weise, wie der Punktestand sichtbar gemacht wird, lässt sich dies anschaulich erläutern.

I. Kramerleiste

Die Kramerleiste ist heutzutage weit verbreitet, verbindet sie doch geringen Verwaltungsaufwand während des Spiels mit niedrigen Zusatzkosten für den Verlag. Punkte auf einer Leiste abzutragen bietet den Vorteil, die Punkteverteilung räumlich darzustellen. Die Spieler bekommen den Punktestand bildlich vor Augen geführt und es entsteht ein intuitives Gefühl, welcher Spieler wie weit vorne liegt. Diese direkte und klare Darstellungsform gibt den Spielern die Möglichkeit, jederzeit und auf einen Blick eine Übersicht über den Spielstand zu gewinnen. Der führende Spieler hat es
dadurch natürlich schwerer, da den Mitspielern seine Überlegenheit permanent unter die Nase gerieben wird.

Gefährlich wird die an sich positive Übersichtlichkeit, wenn verdeckte Siegpunkte ins Spiel kommen, die nicht sofort in die Bewertung auf der Leiste einfließen. In diesem Fall wird der Spielstand verzerrt dargestellt. Nicht alle Spielernaturen werden erkennen, dass es sich dabei um eine „fehlerhafte“, weil unvollständige Darstellung handelt. So ist die Überraschung groß, wenn entgegen ihrer Erwartung der vermeintlich weit abgeschlagene Spieler mit Hilfe seiner verdeckten Punkte das Spiel für sich entscheidet.

Auch die Länge der Kramerleiste gibt den Spielern Informationen. Implizit deutet sie an, wie viele Punkte in einem Spiel überhaupt erreicht werden können. Eine Leiste, die im Spiel nicht einmal zur Hälfte ausgenutzt wird, irritiert und hinterlässt das Gefühl, „irgendwie falsch“ gespielt zu haben.

II. Punkte aufschreiben

Auch wenn der Punktestand auf einem separaten Blatt notiert wird, ist er prinzipiell jederzeit einsehbar. Spieler machen jedoch nur hin und wieder von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Führende wird hier nur während einer Wertung offenbart; auch die Abstände zwischen den Mitspielern werden nur punktuell sichtbar.

Werden die Punkte nicht aufaddiert, sondern bei jeder Wertung einzeln aufgeschrieben, bleibt die aktuelle Stärke der Mitspieler noch mehr im Verborgenen. Die Aufmerksamkeit verlagert sich von der aggressiven Komponente, den Führenden zu stören, auf das eigene Abschneiden bei der nächsten Wertung.

Eine weitere Besonderheit des Aufschreibens ist die fehlende Punkteskala und damit der fehlende Maßstab. Die Punkte stehen für sich und werden nicht anhand einer angenommenen Obergrenze bewertet.

Auch die Form, in der Spielinformationen dargeboten werden, beeinflusst also das Spielverhalten. Wieder stellen sich Fragen nach der Zielgruppe und dem gewünschten Effekt. Jede Variante legt den Spielern gewisse Herangehensweisen nahe und bietet die Chance, Stärken zu betonen, Schwächen abzumildern und den Charakter eines Spiels zu unterstreichen.

Eine falsche Wahl kann die Spielfreude deutlich schmälern, wie man beispielhaft an Vinci sehen kann. Hier wird der Spielstand auf einer Kramerleiste abgetragen. Das Spiel endet mit einer bestimmten Punktzahl. Da es jedoch jederzeit möglich ist, dem Führenden zu schaden, bleibt das Spiel bis zum Ende völlig offen und wird nur selten von dem Spieler gewonnen, der bis kurz vor Schluss die Führung innehatte.

Ästhetik im Spiel

Ein weiterer Aspekt, der die Spieler emotional beeinflusst, ist die Ästhetik.
Brettspiele vermitteln neben visuellen oft auch klangliche und haptische Reize. Gerade dann, wenn verschiedene Aktionsmöglichkeiten die Sinne unterschiedlich stark stimulieren, können Spieler unbewusste Präferenzen für multimediale Optionen entwickeln. Es scheint beispielsweise wesentlich befriedigender zu sein, einen Würfel zu werfen, insbesondere mit Würfelbecher, als eine Karte zu ziehen oder ein Plättchen zu legen. Im Extremfall führt dies sogar dazu, dass Spieler widersinnige Aktionen ausführen, um ein befriedigendes sinnliches Erlebnis auszulösen.

Das Material, mit dem bestimmte Teile des Spiels repräsentiert werden, beeinflusst die Identifikation mit diesen Komponenten. Wird das Vermögen eines Spielers auf einer Kramerleiste abgetragen, bleibt es abstrakt. Zählt ein Spieler die Geldscheine in seiner Hand, kann er seinen Reichtum sprichwörtlich „begreifen“. Außerhalb des Spiels erworbene Eigenschaften wie Sparsamkeit, Besitzerstolz und Neid gewinnen plötzlich an Bedeutung.

Werden ästhetische Reize im Sinne des Spiels eingesetzt, können auch sie das Erlebnis nicht nur reichhaltiger machen, sondern dazu beitragen, das Spielverständnis zu verbessern und die Spieler auf die „richtige“ Fährte zu locken.

Glückskomponenten

Im Laufe eines Spiels müssen Spieler Entscheidungen treffen, von denen Erfolg und Misserfolg abhängen. Im Regelfall fühlen sie sich für die gewählten Aktionen und deren Auswirkungen verantwortlich. Doch obwohl rational gesehen unsinnig, ist dies abgeschwächt auch bei Glückskomponenten der Fall. Hier spielt eine große Rolle, in welchem Gewand der Glücksfaktor im Spiel auftritt.

Beim Würfeln trägt derjenige Spieler eine „Mitschuld“ am Ergebnis, der den Würfelwurf ausgeführt hat. Nicht wenige Spieler würden sich weigern, ein schlechtes Ergebnis anzuerkennen, wenn der Mitspieler für sie gewürfelt hat. Wie wichtig diese Komponente der Eigenverantwortlichkeit bei Glücksspielen ist, sehen wir daran, dass fast jedes Glücksspiel dem Spieler einen Handlungsspielraum zugesteht. Er darf dem Glücksrad den „richtigen“ Schwung geben, bei Losen „sein“ Glückslos selbst aussuchen und beim Lotto die persönlichen Glückszahlen ankreuzen.

Dass Menschen glauben, ihr Glück beeinflussen zu können, merkt man schließlich auch daran, dass es einen Unterschied macht, wann Fortuna ihre Entscheidung trifft. Bei Texas Hold‘em-Poker werden nach jeder der ersten drei Runden in der Spielmitte Karten vom Stapel aufgedeckt, die sich direkt auf die Gewinnchancen der Mitspieler auswirken. Interessanterweise fühlten sich bei einer Partie einige Spieler ihrer Chancen beraubt, als der Geber damit begann, alle aufzudeckenden Karten bereits vor der Spielrunde auf den Tisch zu legen, anstatt sie erst im „richtigen“ Moment vom
Stapel zu ziehen. Als Spieleautor tappt man hier leicht in die Falle, wenn man nur den reduzierten Verwaltungsaufwand der zweiten Version im Blick hat und dabei die psychologischen Auswirkungen außer Acht lässt.

Psychologische Täuschungen

Ist ein Spieler besonders weit vorne, weil er bei Risiko die vier optisch großen Länder Südamerikas beherrscht, statt in fünf kleinen Ländern Europas stationiert zu sein? Menschen nehmen ihre Alltagserfahrungen mit ins Spiel und neigen so dazu, Spielsituationen falsch zu interpretieren, wenn sie dem „gesunden Menschenverstand“ widersprechen. Doch schon bei statistischen Elementen, die in Spielen durchaus häufig vorkommen, führt uns unser Bauchgefühl schnell in die Irre.

Ein bekanntes Beispiel ist die Erwartung, dass die Wahrscheinlichkeit auf den Würfelwurf einer Sechs schon allein dadurch steigt, dass im Spiel bislang noch keine Sechs gefallen ist. Je nachdem wie der Autor den Mechanismus (Zufallszahl zwischen 1-6 bei einer Wahrscheinlichkeit von 1/6 für jede Zahl) in seinem Spiel umgesetzt hat, wird dieser Irrglaube verstärkt oder abgeschwächt.

Beispielsweise kann man den Würfel durch sechs Karten mit den Zahlen eins bis sechs ersetzen. Es wird eine Karte vom Stapel gezogen. Vor dem nächsten „Würfelwurf“ wird die Karte zurückgelegt. Der Stapel wird neu gemischt und illustriert so die Unabhängigkeit der verschiedenen „Würfe“.

Noch weitaus weniger Spieler werden bei folgender Umsetzung an der Überzeugung von der steigenden Sechser-Chance festhalten: Zwei Spieler notieren geheim eine Ziffer zwischen eins und sechs. Die Nummern werden aufgedeckt und addiert. Ist die Summe größer als sieben, werden sechs Punkte abgezogen. Entscheiden sich die Spieler etwa für die Zahlen „drei“ und „sechs“, lautet das Ergebnis „drei“ (3 + 6 = 9, 9 – 6 = 3). Sieht man davon ab, dass manche Spieler entsprechend dem Stein-Schere-Papier-Phänomen nach einiger Zeit tatsächlich erahnen können, welche Zahlen das Gegenüber wählt, haben wir es hier mit einem äquivalenten Zufallsmechanismus zu tun. Da aber die Spieler selbst für die Auswahl der Zahlen verantwortlich sind, wirkt der Gedanke eine Steigerung der Sechser-
Wahrscheinlichkeit fast schon absurd.

Fazit

Wie die obigen Beispiele verdeutlichen, können schon kleine Veränderungen in der Umsetzung von Mechanismen große Auswirkungen nach sich ziehen. Dieser Text soll dazu ermutigen, die Sinne für psychologische Aspekte zu schärfen.Als Übung empfiehlt sich dabei, sich publizierte Spiele vorzunehmen. Die abstrakte, logische Struktur dient als Grundlage für den Versuch, die Mechanismen
auf andere Art umzusetzen und die Abweichungen in der emotionalen Wirkung zu ergründen.
Wie reagieren die Spieler darauf?
Welche Materialen kann man ersetzen?
Was geschieht, wenn man bestimmte Metaregeln vorgibt?
Spiele bleiben eben kein abstraktes, gedankliches Konstrukt, sondern werden erst am Spieltisch zum Leben erweckt. Ähnlich dem Verhältnis zwischen einem Manuskript und seiner Aufführung im Theater bestimmt die Inszenierung der nackten Mechanismen das Erlebnis und den Genuss der Spieler.

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